Paihia/Russell (Kororareka) 10. März 1845
Emily stand ungeduldig in der Haustür und wartete auf ihren Mann. Sie trug ihr feinstes Kleid und einen neuen Hut. Walter kam wie immer bei privaten Verabredungen auf die letzte Minute. Wenn es nach ihr, Emily, gegangen wäre, dann hätte sie sich an diesem Tag gar nicht erst aus dem Haus gerührt. Seit Hone Heke überall verkündet hatte, dass er den Fahnenmast am Morgen des elften März noch einmal fällen werde, mieden es die Bewohner von Paihia, nach Russell zu rudern. Walter aber hatte darauf bestanden, John Hobsens Fest zu besuchen. Nicht weil er ihn so gern mochte, sondern weil er die kleine Reise als Zeichen verstand, sich nicht von den Drohungen des Maori-Häuptlings einschüchtern zu lassen. Sogar der Mission hatte Hone Heke vor ein paar Tagen ganz provokant einen Besuch abgestattet und Walter genauestens von seinem Vorhaben berichtet. Der Missionar hatte das Ganze als versteckte Drohung verstanden. Und deshalb wollte er Flagge zeigen, mit gutem Beispiel vorangehen und beweisen, dass man sich nicht feige verkriechen durfte.
Trotz der Hitze fröstelte Emily. Ihr war dieser Ausflug ganz und gar nicht geheuer, zumal sie in der letzten Nacht von einem schrecklichen Feuer geträumt hatte. Sie schüttelte sich. Nur nicht daran denken!, sprach sie sich gut zu. Wo ihr Mann nur steckte? Und auch Matthew war weit und breit nicht zu sehen. Emily seufzte schwer. Abgesehen von ihrer Angst, am heutigen Tag überhaupt das Haus zu verlassen, ging es ihr auch sonst alles andere als gut. Erst hatte diese Bella Morton ihr einen unverschämten Brief geschrieben, dann quälte sie der Gedanke, dass Maggys Baby ja in diesen Tagen irgendwann zur Welt kommen musste ... Emilys Magen rebellierte bei der Vorstellung, dass ihre Ziehtochter immer noch in Te Waimate war. Was, wenn sie ein weißes Kind gebären würde? Die Aussicht, dass womöglich jemand, der sie kannte, Maggy dort mit so einem Kind sehen würde, war ihr unerträglich. Da kann ich nur von Glück sagen, dass man die Bewohner von Pai-hia und Russell gewarnt hat, in den nächsten Tagen weitere Reisen zu unternehmen, weil Kawitis Truppen angeblich im Anmarsch auf das einstige Kororareka sind, ging es ihr durch den Kopf. Doch nachdem die Gefahr vorüber wäre, bliebe ihr gar nichts anderes übrig, als sich selbst auf den Weg nach Te Waimate zu machen, Maggy mitzunehmen und eigenhändig in Auckland bei der Familie abzuliefern, die sie als Haushaltshilfe einstellen wollte. So weit kam es noch, dass sie sich von dieser Lehrerin Vorschriften machen ließ, was mit der unglückseligen Maggy zu geschehen hatte oder nicht!
Sie würde auf der Fahrt nach Auckland genügend Zeit haben, auf Maggy einzureden und sie davon zu überzeugen, ihr Kind in das Waisenheim zu geben. Ihr Entschluss stand fest. Dort im Heim würde sie, Emily, es aber niemals abgeben, sondern mit nach Hause nehmen, nachdem sie mit June geredet hatte. Ich muss ihr gegenüber heute unbedingt das Thema Adoption ansprechen, nahm sich Emily fest vor. Deshalb konnte sie Maggy auf keinen Fall die Ehe mit dem Maori gestatten. Sie brauchte das Kind, um Junes Ehe zum Laufen zu bringen. Sie war fest entschlossen, June dieses Kind als Waisenkind unterzuschieben. Natürlich regte sich hin und wieder ihr schlechtes Gewissen, das sie stets trotzig mit dem Gedanken zu beruhigen versuchte, dass sie es nur gut meinte und zum Wohl aller so entschied. Das Traurige war nur, dass Emily mit keinem Menschen über ihre Pläne reden konnte. Auch nicht mit Walter. Er hatte nicht ein einziges Mal, seit Maggy fort war, nach ihr gefragt, und immer wenn sie, Emily, Anstalten machte, das Thema anzuschneiden, dann stellte er sich taub. Das Einzige, was er in dieser Sache übernommen hatte, war, eine Familie in Auckland zu besorgen, bei der Maggy arbeiten konnte. So hatte sie ihm auch den Brief der Lehrerin verschwiegen und ihn in dem Glauben gelassen, dass Maggy bereits längst weit weg in der Hauptstadt war. Er würde sich nur unnötig aufregen, wenn er erfuhr, dass Maggy sich in den Kopf gesetzt hatte, einen Maori zu heiraten. Und was, wenn der entdeckte, dass der Vater ihres Kindes kein Maori war? Nicht auszudenken. Aber was würde Matthew sagen ? Er fragte ständig nach seiner Schwester, und sie log ihm dann vor, dass sie sich in der Mission so wohlfühle, dass sie unbedingt noch ein paar Wochen dort bleiben wolle. Gerade bei den unsicheren Verhältnissen in Russell. Aber auch ihr Ziehsohn machte ihr zurzeit mehr Kummer als Freude. Seit Walter ihn im Januar bei dem Versuch erwischt hatte, zum Fahnenmast zu gelangen, war das Verhältnis zwischen den beiden kaum mehr zum Aushalten. Natürlich hieß auch Emily es nicht gut, dass es Matthew mit aller Macht zu den Rebellen zog, aber durfte man ihn deshalb einsperren? Walter hatte solche Angst, Matthew könne sich aus dem Staub machen, dass er ihn abends nicht mehr aus dem Haus ließ. Er bildete sich ein, er habe den Jungen zu weich erzogen. So einer verstehe nur die harte Hand eines Vaters, nicht dessen Gerede über christliche Nächstenliebe. Emily teilte seine Einstellung nicht, doch auch ihr gegenüber war Walter längst nicht mehr so nachgiebig. Sie empfand ihn manchmal fast als grob. Was war nur aus dem frommen, schüchternen jungen Mann geworden, in den sie sich einst verliebt hatte? Vor allem erreichte er mit dieser Art der Erziehung bei dem Jungen rein gar nichts. Matthew war nach wie vor widerspenstig und tat in der Regel das Gegenteil von dem, was man von ihm verlangte. Umso mehr wunderte es Emily, dass er sich ohne Murren bereit erklärt hatte, sie zum sechzigsten Geburtstag von Mister Hobsen nach Kororareka zu begleiten. Das wertete sie als sicheres Zeichen, dass er von diesem Unsinn, sich zu Hone Hekes Leuten zu gesellen, Abstand genommen hatte.
»Da bist du ja endlich«, schnaubte sie, als sie ihren Mann die Treppe heruntereilen sah. Mit einem prüfenden Blick stellte sie fest, dass sein Anzug sauber war und richtig saß. Ihm folgte Matthew auf dem Fuß. Ihn werde ich sicherlich noch einmal nach oben schicken müssen, denn er wird aus Prinzip seine alte Jacke anziehen, vermutete Emily, so abgrundtief, wie er Mister Hobsen hasst. Doch so kritisch sie ihren Ziehsohn auch beäugte, alles an ihm saß tadellos. Was sie allerdings verwunderte, war das Köfferchen in seiner Hand. Schließlich wollten sie nur eine Nacht bleiben, aber sie sagte nichts.
»Oho, heute mal nicht barfüßig?«, stichelte Walter mit einem Blick auf die blank geputzten Halbschuhe seines Ziehsohnes.
»Walter, bitte, wir wollen uns doch nicht streiten«, wies Emily ihren Mann in scharfem Ton zurecht, woraufhin Matthew von einem Ohr zum anderen grinste.
»Dir wird das Feixen noch vergehen. Wenn dein Freund Hone Heke morgen jämmerlich scheitert und seine Männer unnötig in Gefahr bringt. Was ist er einst für ein guter Prediger gewesen! Der hätte er bleiben sollen, statt unter die Rebellen zu gehen. Wenn ich mir vorstelle, dass ich seine Kinder getauft habe! Dass er ihnen so etwas antun mag«, schimpfte Walter, doch Matthew kümmerte sich nicht darum. Er war viel zu gut gelaunt, um sich von seinem Ziehvater provozieren zu lassen. Besser konnte es gar nicht laufen, als am heutigen Tag zusammen mit seinen Zieheltern auf die andere Seite der Bucht zu rudern und sogar dort zu übernachten. Der Vorschlag war von Walter gekommen, dass sie heute Nacht auf keinen Fall zurückrudern sollten. Und nach Einbruch der Dunkelheit aus einem Gästezimmer zu verschwinden, das sollte kein Problem sein. Matthew rieb sich vor Freude die Hände. Wie gut, dass er gestern zufällig Tiaki begegnet war. Sehr gesprächig war sein Freund allerdings nicht gewesen. Matthew hatte seine Schweigsamkeit darauf geschoben, dass er sich von ihm im Stich gelassen gefühlt hatte, weil er im Januar nicht zum Flaggenmast gekommen war. Er hatte es ihm erklärt, und Tiaki hatte nur müde abgewinkt. Das sei schon in Ordnung, hatte er wörtlich gesagt. Jetzt, als Matthew so darüber nachdachte, hatte sich der Freund äußerst seltsam benommen. Bei nächster Gelegenheit werde ich ihn fragen, ob alles in Ordnung sei, nahm er sich fest vor. Die Hauptsache war, dass Tiaki ihm bestätigt hatte, wann und wo sich die Rebellen einfinden würden. »Wir treffen ihn am oberen Blockhaus«, hatte er ihm zugeflüstert. »Warum erzählt Hone Heke eigentlich jedermann von seinen Plänen? Sogar meinem Vater«, hatte Matthew Tiaki gefragt. »Ist das nicht viel zu gefährlich?«
Der Freund hatte gelacht und mit der Übermacht der Rebellen geprahlt. Matthew war skeptisch geblieben. Sehr skeptisch sogar.
»Träumst du, oder willst du ins Boot getragen werden?«, fragte Walter spöttisch.
Matthew schreckte aus seinen Gedanken auf und kletterte flink in das Ruderboot. Sobald seine Zieheltern Platz genommen hatten, griff er nach den Rudern und brachte das Boot mit gleichmäßigen Schlägen über das spiegelglatte Wasser auf die andere Seite der Bucht. Dabei mussten sie an den vielen großen Schiffen vorbei. Matthew zählte fünf. Ein amerikanisches Kriegsschiff, einen britischen Walfänger, den Schoner Flying Fish, den Zweimaster des Gouverneurs Victoria und das englische Kanonenboot Hazard. Bei dem Anblick des Letzteren wurde Matthew mulmig zumute. Wenn die Besatzung es wollte, konnte sie Kororareka mit einem Streich dem Erdboden gleichmachen, und die Engländer würden das wahrscheinlich als glorreichen Sieg über die Aufständischen verkaufen. Matthew versuchte nicht mehr daran zu denken, was schiefgehen konnte, sondern sich auf das wesentliche Ziel zu konzentrieren: Der Mast musste noch einmal fallen. Das würde dieses Mal aber auch aus einem anderen Grund nicht mehr so einfach sein wie die Male zuvor, hatte man ihn doch inzwischen am Boden mit schwerem Eisen ummantelt, das keine Axt mehr so einfach durchschlagen konnte.
Am Steg herrschte reges Treiben. Mehrere Rotröcke und einige von Waka Nenes Männern empfingen sie mit Musketen, die sie auf die Ankommenden richteten.
»Ich bin Reverend Walter Carrington aus Paihia. Wir sind bei Mister Hobsen eingeladen.«
»Dann dürfen Sie passieren«, erklärte einer der Rotröcke höflich. Im gleichen Augenblick senkten die Soldaten und ihre Helfer die Gewehre und ließen die drei an Land gehen. Sie halfen sogar Emily aus dem Boot.
»Kein schöner Tag zum Feiern«, bemerkte der eine Soldat jovial.
»Besser, als sich in den Häusern zu verkriechen«, erwiderte Walter. »Wir haben keine Angst. Der Herr ist mit uns.«
Matthew verdrehte die Augen, was sein Vater aber glücklicherweise nicht bemerkte.
Auch auf dem Weg zum Haus der Hobsens begegneten ihnen wesentlich mehr Soldaten als Einwohner. Matthews Sorge wuchs. Nicht, dass er am kriegerischen Geschick des großen Hone Heke zweifeln wollte, aber die Präsenz seiner Feinde sprach eine deutliche Sprache. Erst nachdem sie den Ortskern verlassen hatten, wurde es ruhiger.
Das Haus der Hobsens lag oben auf einem der Hügel. Es war das größte und vornehmste Haus von ganz Russell und das mit dem besten Blick über die gesamte Bucht. Es war aus weiß gestrichenem Holz, und vor dem Haus befand sich eine riesige überdachte Veranda, deren Geländer und Säulen bis ins Kleinste kunstvoll geschnitzt waren. Schon als Matthew und seine Eltern in der immer noch heißen Märzsonne den steilen Berg emporstiegen, schallte ihnen das laute Gemurmel der Festgesellschaft entgegen.
Sie hatten die Stufen zur Veranda noch gar nicht erklommen, als ihnen Amanda Hobsen entgegeneilte. »Oh, wie schön, dass wenigstens ihr gekommen seid!«, rief sie überschwänglich. Emily und Walter blickten einander verwirrt an. So freundlich waren sie noch nie von der Schwiegermutter ihres Sohnes begrüßt worden. Sogar Matthew bedachte sie mit einem Lob. »Du sieht heute aus wie ein feiner junger Herr. Das lobe ich mir.« Doch als sie ihm sogar einen Kuss auf die Wange geben wollte, wich er erschrocken zurück. Sie aber merkte es gar nicht. Amanda sah schrecklich mitgenommen aus. Ihr aufgequollenes Gesicht war feuerrot, Schweiß lief ihr von der Stirn, und sie jammerte: »Sie haben uns alle im Stich gelassen. Viele der Gäste sind gar nicht erst gekommen. Kein einziger aus Auckland ist da. Das ist eine Katastrophe. Ich könnte diesen Rebellen eigenhändig erwürgen. Er hat mir das schöne Fest verdorben. Aber kommt doch herein!«
Dafür, dass angeblich alle abgesagt hatten, standen für Matthews Geschmack noch genügend wohlbeleibte Pakeha auf der Veranda herum. Unter ihnen erkannte er auch den Kommandeur der Hazard, Kapitän Robertson, an seiner prächtigen Uniform. Der aber schien nicht ganz bei der Sache zu sein und ließ den Blick immer wieder prüfend über die Bucht schweifen. Um sich zu vergewissern, dass dort draußen noch alles ruhig war, mutmaßte Matthew. Ganz im Gegensatz zu den übrigen Männern, die scheinbar unbeschwert miteinander plauderten und dabei dicke Zigarren qualmten. Beim näheren Hinsehen erkannte Matthew allerdings, dass sie ihre Anspannung nur zu verbergen suchten. An der hektischen Art, wie sie an ihren Zigarren zogen, verrieten sie sich. Nur Henry schien unbeschwert wie eh und je. Er unterhielt sich angeregt mit einem hochgewachsenen Herrn in einem feinen Anzug. Als er seine Eltern erblickte, stellte er ihnen seinen Gesprächspartner mit den Worten vor: »Das ist Mister Lambton von der New Zealand Company. Die Gesellschaft plant in Wellington und Wanganui Land für die Krone zu erwerben, und ich könnte vielleicht mit einsteigen.« Sein ohnehin rotes Gesicht war vor Aufregung noch dunkler gefärbt als sonst. Sein Atem dünstete bereits Alkohol aus. Emily lächelte gewinnend, während Walter nur »Schön, schön!« murmelte und sofort im Haus verschwand.
Matthew hingegen drückte sich in eine Ecke der Veranda. Ihn hatte Henry dem Vertreter der Company gar nicht vorgestellt. Und das ist auch besser so, dachte Matthew. Waren die Herren der Company doch nicht gerade als Freunde der Maori bekannt. Im Gegenteil, es wurden immer häufiger Fälle ruchbar, dass sie Stammesführer bei den Verhandlungen über den Tisch gezogen hatten.
Erst jetzt merkte Matthew, dass ihn eine Gruppe junger Mädchen in festlichen Kleidern anstarrte, bevor die Erste von ihnen in albernes Gekicher ausbrach. Matthew blickte unauffällig an sich hinunter, ob er sich vielleicht bekleckert hatte, doch er konnte nichts feststellen. Doch dann dämmerte ihm, dass er offenbar der einzige Maori inmitten dieser Gesellschaft war. Als die Mädchen nun gickelnd mit den Fingern auf ihn zeigten, streckte er ihnen die Zunge heraus, woraufhin die alberne Schar kreischend fortlief. Matthew fragte sich, wie er bloß die Zeit bis zum Anbruch der Dunkelheit totschlagen sollte. Er beschloss, sich erst einmal satt zu essen. Drinnen bog sich eine Tafel voller Köstlichkeiten, an der man sich im Vorbeigehen bedienen konnte. Matthew langte ordentlich zu und wollte wieder nach draußen schlendern, als ihm eine Hand über das Haar fuhr. Erschrocken blickte er auf, doch es war nur June, die Einzige der Familie Hobsen, die Matthew überhaupt leiden konnte. June hatte immer ein freundliches Wort für ihn übrig.
»Na, was macht die Arbeit?«, wollte sie wissen.
Er hob die Schultern. »Alles gut.«
»Und deine Porträts?«
»Im Augenblick haben die Häuptlinge anderes im Sinn, als sich von mir malen zu lassen«, antwortete er wahrheitsgemäß. »Aber ich darf für ein Versammlungshaus in der Nähe von Kerikeri für den Giebel eine Holzfigur von Kupe schnitzen, unserem großen Entdecker.«
»Das freut mich sehr - und gefällt es dir hier?«
»Danke, sehr gut«, erwiderte er höflich.
In diesem Augenblick trat Emily auf June zu. »Meine Liebe, dich habe ich ja noch gar nicht begrüßt. Wie geht es dir? Wie bekommt dir die Ehe?«, zwitscherte sie.
»Ich sehe Henry ja kaum noch. Er ist immer in Geschäften unterwegs«, seufzte June. »Wie schön wäre es doch, wenn ich Kinder hätte.«
Emily bekam auf der Stelle hektische rote Flecken im Gesicht. »Siehst du, genau das wollte ich dich fragen. Wäre es nicht an der Zeit, sich im Aucklander Waisenhaus umzusehen, wenn das hier alles vorüber ist?«
Jetzt erst nahm Emily ihren Ziehsohn wahr. Sie machte eine abwehrende Geste. »Vielleicht gehst du ein wenig nach draußen. Wir führen Frauengespräche.«
Matthew wollte sich gerade trollen, da hielt June ihn am Arm fest. »Bleib ruhig bei uns! Er kennt doch hier sonst kaum jemanden. Mich stört er nicht. Es weiß doch inzwischen jeder in der Bay of Islands, dass ich keine eigenen Kinder bekommen kann, nicht wahr?« Das klang betrübt.
Matthew nickte wohl erzogen, obwohl ihm das neu war und ihn auch nicht sonderlich interessierte.
»Genau, meine Liebe, da wäre es doch wirklich eine gute Idee, ihr würdet ein Kind annehmen. Ich muss in den nächsten Wochen ohnehin nach Auckland reisen. Soll ich mich bei der Gelegenheit einmal für euch umsehen?«
»Das müsste ich mit Henry besprechen, wenn er einmal Zeit für mich hat.«
Matthew trat verlegen von einem Bein auf das andere. Er verstand nicht viel von Frauensachen, aber dass June Hobsen unglücklich war, das merkte selbst er.
»Ach, Kindchen, das wird schon wieder. Ich werde mich darum kümmern. Einverstanden?«
June nickte brav.
In diesem Augenblick kam ihr Vater hinzu und begrüßte Emily überschwänglich. Als sein Blick auf Matthew fiel, murmelte er unwirsch: »Wer hat denn dich eingeladen? Du solltest doch eigentlich bei deinem Rebellenfreund beim Mast sein! Doch ich schwöre dir, Bürschchen, dieser Hone Heke hat sich verrechnet. Sie werden ihn und seine Leute gefangen nehmen, und dann bekommt er einen Prozess, der sich gewaschen hat. Er hat keine Gnade zu erwarten. Ich kann nur hoffen, dass ihn vorher eine Muskete erledigt!«
»Aber Vater!«, tadelte ihn June. »Wie redest du denn mit Matty? Er ist Henrys Bruder und gehört zur Familie.«
»Zu meiner nicht!«, entgegnete der alte Hobsen und verschwand in der Menge seiner Gäste.
»Mach dir nichts draus. Er ist ein alter Haudegen, aber er meint es nicht so. Sie sind alle ein wenig nervös wegen Hone Hekes Drohungen, aber sie wollen es nicht zeigen«, versuchte June die Taktlosigkeit ihres Vaters herunterzuspielen, während sie Matthew durch das dichte, fast drahtige Haar fuhr.
»Wir sind jedenfalls froh, dass er so willig mitgekommen ist«, ergänzte Emily und tätschelte ihm die Hand.
Wenn ihr wüsstet, wie gleichgültig mir dieser vollgefressene Pakeha ist und dass ich schneller bei meinen Freunden sein werde, als ihr denken könnt, durchfuhr es Matthew zornig, und er wünschte sich, es wäre endlich Abend.
Doch die Stunden zogen sich quälend langsam dahin. Die Männer wurden immer betrunkener, die Frauen schwatzhafter und die Mädchen alberner, doch es konnte nicht mehr lange dauern. Bald würde die Sonne untergehen, und dann würde er sich zurückziehen. Misses Hobsen hatte ihm ein kleines Zimmer neben der Küche zugeteilt. Das kam ihm natürlich sehr entgegen, hatte er doch befürchtet, sich eine Kammer mit den Eltern teilen zu müssen. Er durfte nur nicht einschlafen, damit er vorm Morgengrauen beim Treffpunkt war. Matthews Herzschlag beschleunigte sich bei diesem Gedanken. Er hatte sich inzwischen einen Stuhl auf der Veranda ergattert, von dem aus er die Gesellschaft mit der nötigen Distanz beobachten und belauschen konnte, doch die Gespräche langweilten ihn. Bis ein paar Rotröcke eintrafen, die nach Kapitän Robertson verlangten. Matthew sperrte die Ohren groß auf. Er hatte Glück. Der Kapitän und die Soldaten stellten sich ganz in seine Nähe, um ungestört von der übrigen Gesellschaft die neusten Informationen auszutauschen.
»Sir, Kawiti ist im Anmarsch. Er kommt von Süden, Hone Heke von Norden«, flüsterte einer der Soldaten. Seine Stimme bebte vor Aufregung.
»Dann ruft alle unsere Leute zusammen! Denen werden wir den richtigen Empfang bereiten«, frohlockte der stattliche Mann in der glitzernden Uniform. Gleich darauf schoss er mit einer Muskete in die Luft, um sich Gehör zu verschaffen.
»Leute!«, rief er. »Es geht los. Die Rebellen greifen uns an. Ich werde euch Soldaten zum Schutz schicken. Wer in der Nähe wohnt, kehre schnell nach Hause zurück. Diejenigen, die nicht aus Russell kommen, bleiben hier. Keiner, der nicht im Ort wohnt, verlässt mehr das Haus. Achtet auf Kinder und Frauen! Hier oben seid ihr sicher.«
Ein Raunen ging durch die Gästeschar, und auch einzelne spitze Schreie ertönten, bevor sich die Gesellschaft ins Haus drängte. Die einen, um hastig ihre Sachen zusammenzuraffen und sich in ihren Anwesen zu verschanzen, die anderen, um sich in das Innere dieses Hauses zu retten. Matthew, dessen Herz bis zum Hals klopfte, trottete ihnen langsam hinterher und zog sich, ohne sich von seinen Zieheltern zu verabschieden, in sein Zimmer zurück. Er konnte nur beten, dass man ihm angesichts der Lage dort draußen nicht noch einen Gast ins Zimmer legte, doch die Kammer bot eigentlich nur Platz für einen.
Erschöpft legte er sich auf das Bett. Während er noch überlegte, wie er sich wohl wach halten konnte, war er bereits eingenickt.